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Lyrik-Vertonungen / Spiegel-Online

04.01.2006 | Kann man moderne Lyrik mit Popstars vertonen? Vor allem, wenn es sich bei den Texten um Dokumente des Leidens und der Trauer handelt? Zwei CD-Projekte riskieren den Versuch - mit erstaunlichem Erfolg.

Diese raue, durchdringende Stimme von Thomas D verleiht den Worten Nachdruck: "Packt dich und hält dich und sprudelt dich an / Sturmflut erfaßt dich und rast mit dir fort". Es sind die Worte eines Teenagers, der sich lange vor Rap und Pop einen eigenen Reim auf die Verhältnisse machte. Die waren grausam und mörderisch: Selma Meerbaum-Eisinger, die Autorin der Zeilen, war eine rumänische Jüdin, die in ein Arbeitslager verschleppt und dort 1942 von den Nazis ermordet wurde.

Die Schweizer Band World Quintet hat die Gedichte nun mit verschiedenen Sängern vertont. Als es darum ging, wer die berührenden Texte über Liebe, Sehnsucht und Gefühle singen soll, hörte sich die Band durch die deutsche Musiklandschaft. Nicht die Stilrichtung, sondern die Stimme war entscheidend. So hat die Gruppe ein Ensemble höchst unterschiedlicher Künstler verpflichtet, zu dem Goldkehlchen Yvonne Catterfeld ebenso gehört wie Souldiva Joy Denalane oder Popprediger Xavier Naidoo.

Frontmann David Klein entdeckte den Gedichtband eher zufällig, der Titel gefiel ihm, und ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben, schickte er ihn an seine Freundin. "Sie las mir am Telefon ein Gedicht vor, und es fiel mir wie Schuppen von den Ohren. Das sind Songtexte."

Posthume Entdeckung

Meerbaum-Eisinger lebte in Czernowitz. Ihre Liebesgedichte schrieb der Teenager nicht auf Rumänisch, sondern auf Deutsch, in der Sprache ihrer Mörder. Im Arbeitslager Michailowska starb Selma 1942 im Alter von 18 Jahren an Typhus. 57 Gedichte sind von ihr erhalten. Einer Freundin von Selma gelang die Flucht aus dem Lager - mit dem handgeschriebenen Gedichtband "Blütenlese" im Rucksack.

In den sechziger Jahren wurde eines der Gedichte in einem in der DDR erschienen Buch abgedruckt. Zufällig las es der ehemalige Klassenlehrer der Lyrikerin, Hersch Segal, der mittlerweile in Israel lebte. Er kontaktierte Selmas Freundin, die den Gedichtband aufbewahrt hatte. Segal druckte die Gedichte 400 Mal auf eigene Kosten, 1985 gab der Journalist und Exilforscher Jürgen Serke die Werke unter dem Titel "Ich bin in Sehnsucht eingehüllt" heraus.

Neben der Vertonung durch das World Quintet erschien bei Hoffmann & Campe eine Neuauflage des Gedichtbandes, Iris Berben sprach die Verse für ein Hörbuch ein. Die CD ist in Zeiten von selbst gebrannten Raubkopien ein echter Blickfänger: Ein Büchlein im Format einer CD-Hülle. Der farbenfrohe Blumendruck auf blauem Hintergrund des festen Einbands ist das Originaldeckblatt von Selmas Gedichtband. Neben den Texten der Gedichte ist auch die Entstehungsgeschichte des Projektes erklärt.

Expressionismus goes Pop

Auch die CD "Ich träum so leise von Dir", dreizehn vertonte Gedichte der Lyrikerin Else Lasker-Schüler (1869-1945), vermittelt Wort und Klang in anspruchsvoller Weise. Den Musikern und Songwritern Björn Krüger und Julian Hanebeck war der Gedanke, ein gesprochenes Gedicht musikalisch zu unterlegen, eher fremd. "Musik hat der Sprache nichts entgegenzusetzen", so Hanebeck. Dennoch nahmen die jungen Produzenten die Aufgabe, die ihnen die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft gestellt hatte, an. Sie suchten Texte aus allen Schaffensphasen der jüdischen Autorin aus und ließen 13 Künstlerinnen ihren Lieblingstext wählen.

Die Hamburger Soulsängerin Regy Clasen kannte die expressionistische Dichterin, die 1933 vor den Nazis nach Zürich floh, gar nicht. Als Clasen sich mit Lasker-Schülers Werk auseinander setzte, fiel ihr auf, wie modern die Sprache der Dichterin ist. "Die Metaphern, die sie wählt, sind kraftvoll, ungewöhnlich und trotzdem klar", so Clasen. Zitat: "Ich habe Dich gewählt unter allen Sternen / An dem seligen Glanz Deines Leibes / zündet mein Herz seine Himmel an."

Auch Mieze, Sängerin der Berliner Elektro-Pop-Band Mia, begeisterte sich für die rhetorische Verve der Lasker-Schüler-Verse: "Was mich sehr beeindruckt hat, ist diese endlose Traurigkeit, dieser Weltschmerz. Dass sie die Kraft hatte, zu Stift und Zettel zu greifen, um ihre Gefühle festzuhalten."

So sind beide Liedsammlungen Dokumente der Melancholie - und Beweis dafür, dass Dichtung nicht nur in der so genannten E-Kultur zu Hause ist. Ihr musikalisches Potenzial lässt sich genreübergreifend immer wieder neu entdecken. Lyrik hat, so traurig und tragisch ihre Sujets auch sein mögen, Groove. Wenn das nicht nach einer Entdeckung klingt.

Swantje Dake

http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,392771,00.html



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